Die Weiße Frau
Eine Geschichte, die ich im Jahr 2014 geschrieben habe, basierend auf dem Mythos "Die Weiße Frau vom Ebersberger Forst".
(Abenteuer/Fantasy)
Viel Spaß beim Lesen :-)
Es war weg. Es
war mir tatsächlich geklaut worden. Ich war aber auch leichtsinnig
gewesen, als ich mein Fahrrad so ungeschützt und für jeden Gauner
erreichbar einfach so vor die Kirche gestellt hatte. Normalerweise
machte ich abends ja immer eine kleine Rundfahrt durch den
Ebersberger Forst. Nun sah es ganz so aus, als müsste ich dieses mal
eben einen Rundgang machen. Das würde zwar etwas länger dauern,
aber ohne meine tägliche nächtliche Unternehmung konnte ich einfach
nicht einschlafen. Seufzend verabschiedete ich mich also vom Pfarrer
und den übrigen Leuten, die sich vor dem Eingang der Kirche noch
lebhaft unterhielten und brach zu Fuß auf. Sonst fuhr ich mit dem
Fahrrad auf der Hauptstraße, die so gut wie ohne jegliche Kurven
direkt durch das große Waldgebiet führte, etwa bis zur Hälfte, bog
dann in einen kleinen Feldweg ein, der auf einem kleinen Umweg wieder
zur Ortschaft zurückführte. Doch da ich heute kein Fahrrad hatte,
beschloss ich, nur die Hauptstraße bis zur Hälfte zu gehen und dann
wieder umzukehren. Die Hauptstraße war stark befahren, folglich
hielt ich mich am Rand der Straße. Natürlich brauchte ich länger
als sonst, sodass es schon stockdunkel war, als ich bei der Hälfte
angekommen war. Ich hatte keine Lust, sofort weiterzugehen, also
setzte ich mich bei den Bäumen, die auf dem Platz zwischen der
Hauptstraße und dem Feldweg wuchsen, nieder. Ich hatte mich im
Dunkeln schon immer sehr wohlgefühlt, aber in diesem Moment
verspürte ich das Verlangen nach einem noch so kleinen Licht so
stark, dass ich den Entschluss fasste, mir ein kleines Feuer zu
entzünden. Ich hatte das schon so oft gemacht, an den unmöglichsten
Anlässen, sodass eine kleine Schachtel Zündhölzer mittlerweile zu
meiner Grundausstattung gehörte. Nun brauchte ich nur noch etwas
trockenes Laub und Holz. Suchen blickte ich mich mit
zusammengekniffenen Augen um. Trockenes Laub lag sowieso überall
herum, nur mit Holz sah es schlecht aus. Im Wald mochte ich es nachts
überhaupt nicht. Ich war froh, dass am Rande des Waldes ein Haufen
Geäst aufgeschüttet war, von dem ich einige Zweige entwendete,
sodass nach ein paar Minuten ein kleines Feuer die kalte Nacht
erhellte. Zwar sahen mich die vielen Autofahrer reichlich verwundert
an, wenn sie vorüberfuhren, aber das war mir egal. Ohne es zu
merken, wurde ich immer müder und müder … bis ich schließlich
unter der Wärme und dem leisen Knistern des Feuers einschlief.
Geweckt wurde ich
erst dann, als Tropfen auf mein Gesicht klatschten.
Regen.
Ich verkniff mir
einen Fluch, sprang auf und versuchte, die Müdigkeit aus meinen
Augen zu vertreiben. Ich hatte durch Zufall eine recht geschützte
Stelle gesucht, sodass das Feuer nicht zu erlöschen drohte –
trotzdem fand ich es nicht gerade angenehm. So wie ich das Wetter
hier kannte, würde es jetzt die ganze Nacht durch regnen. Mir blieb
also nichts anderes übrig, als einen Autofahrer aufzuhalten und ihn
zu bitten, ob ich nicht mitfahren könnte.
Missmutig stellte
ich mich an den äußersten Rand der Straße und winkte den
Autofahrern, die in die richtige Richtung fuhren.
Doch keiner hielt
an.
Sie sahen mich –
ja, sie sahen mir sogar ins Gesicht – aber sie fuhren einfach
weiter. Wenn nicht sogar schneller, als ob sie Angst hätten, ich
könnte sie angreifen.
Nach bestimmt
einer halben Stunde wollte ich resigniert aufgeben, da sah ich einen
Lichtkegel mit hoher Geschwindigkeit auf mich zukommen. Ich winkte
ohne große Hoffnungen und machte einen kleinen Schritt auf die
Straße.
Das hätte ich
besser nicht tun sollen.
Der Fahrer sah
mich offenbar gar nicht.
Er hielt direkt
auf mich zu.
Ich blieb –
unfähig mich zu bewegen – stehen und dachte mir: „Er wird schon
halten, er wird schon aufpassen“.
Ich hatte damals
noch keine Ahnung, wie falsch ich mit dieser Annahme lag.
Ich spürte den
Aufprall gar nicht. Ich hörte ihn nur und fühlte gedämpft, wie ich
weggeschleudert wurde und auf dem harten Boden aufschlug; erst mit
dem Körper, dann mit dem Kopf. Erst zehn Sekunden später kam der
Schmerz.
Und was für
einer. Ich wollte schreien, ich wollte mich krümmen, toben. Aber ich
konnte kein einziges Glied rühren.
Ich lag mit dem
Gesicht zum Feuer. Ich sah seine tanzenden Flammen und spürte sogar
ein wenig von seiner beruhigenden Wärme.
Eine Tür wurde
aufgerissen, Schritte näherten sich.
„Jetzt hilft
mir jemand“, dachte ich erleichtert. „Menschen sind doch keine
Monster“.
Doch es kam keine
Hilfe. Ich hörte nur, wie der Motor aufheulte und der Wagen mit laut
quietschenden Bremsen davonfuhr – und mich hier im Regen, verletzt,
zurückließ.
Das Atmen fiel
immer schwerer. Ich richtete meine Augen mit großer Mühe auf den
Boden. Regenwasser vermischte sich mit einer roten Flüssigkeit und
rann in einer Pfütze zusammen.
„Blut“,
dachte ich. „Es muss wohl das Meine sein“.
Ich hob unter
Schmerzen die Hand und machte mit seltsam zuckenden Bewegungen noch
das Kreuzzeichen und betete still zu Gott, das er mir helfen möge.
Es war das
Letzte, was ich tat.
Das Feuer brannte
noch immer, als ich die Augen schloss.
Sheila reckte sich,
um über die Menschenmasse hinweg die Touristenführerin zu sehen,
die Erklärungen zur Kapelle abgab, was gar nicht so leicht war.
Zudem ihr fester Freund Alex und ihre beiden Freundinnen Kathy und
Isabella sich ständig über den Dialekt der Frau lustig machten.
„Könntet ihr
bitte mal aufhören?“, fuhr Sheila die drei an. „Die reden in
München eben so“.
„Mal langsam!“.
Kathy schüttelte missbilligend den Kopf. „Es war nicht meine Idee
in der Oberpfalz Urlaub zu machen. Und es war auch nicht meine Idee,
dass wir uns diesen Spuk-Forst hier anschauen. Der interessiert mich
nämlich einen Dreck“. Sie zog ihr Smartphone heraus und begann,
Fotos von sich und ihren Freunden zu machen.
Sheila brummte
verärgert und konzentrierte sich weiter auf die Frau, die nun näher
auf den Spuk, der hier angeblich geschah, einging.
„Vor vielen
Jahren, die genaue Zeit weiß man nicht genau, wurde genau hier, an
dieser Stelle auf der Straße vor der Kapelle eine junge Frau
überfahren“, begann sie zu erzählen. „Bis heute weiß niemand,
was sie hier gemacht hat. Tatsache ist nur, dass sie, wahrscheinlich
von einem PKW, überfahren und sterbend zurückgelassen wurde. Als
man sie am nächsten Morgen fand, war sie schon tot und das Feuer,
das sie an dieser Stelle angezündet hatte ...“. Sie deutete auf
den Platz, auf dem jetzt die Kapelle stand. „...brannte noch immer.
Also ist dort diese Kapelle zum Gedenken an das Unglück errichtet
worden. Nun gibt es aber eine Legende: Seit diese junge Frau hier
gestorben ist, erscheint in regnerischen Nächten eine Weiße Frau,
in der Kapelle brennt flackerndes Licht, wie von einem Feuer, und im
Wald in der Umgebung der Kapelle werden seltsame Lichterscheinungen
gesichtet“.
„Und – Ende“,
flüsterte Kathy gelangweilt.
Sheila warf ihr
einen wütenden Blick zu. „Kannst du mal die Klappe halten?“,
zischte sie.
Kathy verdrehte nur
die Augen, schwieg aber.
„Wenn man also
während einer nassen, regnerischen Nacht diese Straße entlang fährt
und sieht, dass in der Kapelle das Licht brennt, dann sollte man auf
der Hut sein. Denn dann steht am Straßenrand die Weiße Frau und
will per Anhalter mitgenommen werden. Wer sie einsteigen lässt, den
lässt sie in Ruhe und verschwindet nur wenige Zeit später wieder
aus dem Wagen. Wer sie aber stehen lässt, dem erscheint sie kurz
darauf im Auto und greift ins Steuer, sodass der Fahrer die Kontrolle
über seinen Wagen verliert und bei dem darauf folgenden Unfall ums
Leben kommt“.
„Und woher wollen
Sie wissen, dass das auch stimmt?“, fragte Kathy leicht aufsässig.
„Was denken Sie,
woher wir diese Legende überhaupt kennen?“, gab die Leiterin der
Gruppe ruhig zurück. „Es gibt Augenzeugen. Und hier geschehen
Dinge, die man sich nicht erklären kann. Wie Sie sicher schon
bemerkt haben, verläuft diese Straße wirklich geradlinig und ohne
irgendwelche gefährliche Kurven oder dergleichen. Trotzdem ereignen
sich hier häufig rätselhafte Autounfälle, deren Ursache noch nie
geklärt werden konnte. Fast jeder von ihnen endete tödlich“. Die
Frau blickte bedeutungsvoll in die Runde. „Ich überlasse es Ihnen,
ob sie mir glauben oder nicht. Die tanzenden Lichterscheinungen, die
man im Wald zu sehen bekommt, sieht man immer, egal ob die Weiße
Frau anwesend ist oder nicht. Seien Sie vorsichtig auf dieser Straße
hier. Man sagt, indem sie per Anhalter fährt, versucht sie ihren
Mörder zu finden. Und jetzt lassen Sie uns umkehren und zum Lager
zurückgehen“, beendete sie ihren Vortrag, den die Leute höflich
beklatschten, auch wenn einige nicht sehr überzeugt aussahen. Zu
denjenigen gehörten auch Kathy und Alex.
Nur Isabella starrte
die Leiterin geschockt an.
Das wunderte Sheila
nicht. Isabelle glaubte an alles Übernatürliche, was es gab. Soll
heißen: Geister, Vampire, Werwölfe, Feen … alles war drin.
Vielleicht hätten
wir Isabella lieber daheim lassen sollen...,
dachte Sheila besorgt. Nun würde Isabella wieder nächtelang nicht
schlafen können. Sie würde sich über Weiße Frauen informieren und
Knoblauch und andere stinkenden Dinge in ihrem Schlafzimmer aufhängen
und immer ein Fläschchen Weihwasser mit sich herumtragen. So eine
verrückte Phase hatte sie mal vor zwei Jahren, als sich die drei
Freundinnen den Film Graf Dracula angeguckt
hatten. Hinterher hatte Isabelle regelrecht Angstzustände gehabt.
Vielleicht lag es daran, dass ihre Großmutter, bei der sie lebte
(ihre Eltern waren, als sie noch ganz klein war, bei einem Autounfall
ums Leben gekommen), tief gläubig war und ihre Enkelin schon im
jungen Kindesalter vor Geistern gewarnt hatte. Das färbte natürlich
ab.
Sheila legte einen
Arm um ihre Freundin und entfernte sich mit ihr einige Meter von den
übrigen Leuten. „Sieh mal“, sagte sie in beruhigendem Tonfall zu
ihr. „Weiße Frauen existieren nicht. Weißt du noch die Burg, in
der wir neulich waren? Da heißt es doch auch, dass dort eine weiße
Frau geistert und lebende junge Frauen und Mädchen die Treppe
hinunterstößt, weil sie neidisch ist. Haben wir eine gesehen? Nein.
Diese Geschichte haben sie sich nur ausgedacht, um die Touristen
anzulocken. Und damit abergläubische Leute einen Grund haben, warum
zwei Frauen aufgrund eines Treppensturzes gestorben sind. Hier wird
es nicht anders sein“.
„Und woher stammen
dann diese vielen schlimmen Unfälle?“, bibberte Isabella.
„Diese Straße ist
geradlinig. Hier kann man wunderbar rasen“.
„Sheila
– diese Legende ist schon seit über fünfzig Jahren bekannt. Sie
wurde also nicht erfunden, nachdem so
viele Unfälle stattgefunden haben“.
Sheila geriet
langsam in Erklärungsnot. Aber sie hatte keine Lust, Isabelle
sinnloserweise Zeug zu erzählen, was sie am Ende doch nicht von
ihrer Überzeugung abbringen würde. „Wenn du meinst“. Sheila
zuckte betont gleichgültig die Schultern und lief wieder zu den
anderen hinüber.
„Bella, mach dir
bloß nicht ins Hemd“, neckte Kathy sie lachend und stieß ihre
Freundin kameradschaftlich an. Doch der war überhaupt nicht nach
Scherzen zumute. „Ach, lasst mich doch“, brummte Isabella
genervt.
„Musste das
sein?“, fuhr Sheila Kathy an, als Isabella weggegangen war.
Alex legte ihr einen
Arm um die Schulter. „Mach doch keinen Stress“, versuchte er, sie
zu beruhigen. „Du kennst sie doch. In einer Stunde ist sie wieder
ganz die Alte“.
Sheila
warf einen Blick auf Kathy – und machte sich augenblicklich wieder
Sorgen. Kathy hasste
es,
wenn Isabella einen „Geister-Anfall“ hatte und sich aufführte,
wie Menschen im Mittelalter.
Nun
stand sie also mit verkniffenen Mund da und starrte Isabella wütend
nach. Ihr Blick sagte in etwa: Na
warte, dir werd ich's zeigen …!
Sheila lag nicht
falsch mit ihrer Vermutung.
Kathy hatte wirklich
etwas vor.
Als sie zu viert
etwas abseits am Zeltplatz saßen und sich über alles mögliche
unterhielten, warf Kathy plötzlich in die Runde: „Bella, ich werde
dir beweisen, dass es keine weiße Frau gibt“.
Isabella, die
gedankenverloren an einem Stück Semmel geknabbert hatte, fuhr hoch
und sah Kathy ungläubig an. „Wie bitte?“.
„Du hast mich ganz
genau verstanden“. Kathy warf allen einen finsteren Blick zu.
„Heute Nacht werde ich mit dem Fahrrad durch den Ebersberger Forst
fahren, egal, ob einer von euch mitkommt“.
Sheila wand sich.
„Es muss regnen“.
„Hä?“.
„Es muss regnen,
damit sie erscheint“, wiederholte Sheila lauter.
Kathy hob den Kopf
und blickte gen Himmel. „Ich habe Hoffnungen, dass es regnen wird“.
„Lass diesen
Quatsch doch einfach“. Alex bedachte sie mit einem warnenden Blick.
„Schiss?“. Kathy
grinste.
Und sie grinste noch
mehr, als die ersten Regentropfen fielen. „Na siehst du“,
murmelte sie triumphierend und sprang auf. „Ich richte gleich meine
Ausrüstung her. Wer kommt mit? Um sich mit eigenen Augen von der
Nicht-Existenz der Weißen Frau zu überzeugen?
Alex tippte sich an
die Stirn.
Sheila stöhnte. Sie
empfand nicht die geringste Lust, im Regen in einem stockdunklen Wald
herumzutappen und sich von oben bis unten dreckig zu machen.
Andrerseits konnte sie Kathy auch nicht alleine losziehen lassen.
„Von mir aus“.
Sheila knallte das Buch hin, in dem sie gelesen (oder es zumindest
versucht) hatte. „Ich komme mit. Wann soll es losgehen?“.
Kathy grinste. „Um
zehn?“
Sheila
nickte stumm. Das Lustigste an der Sache war ja: Sie hatten keine
Taschenlampen. Das hier sollte ein Natur-Lager
sein. Was bedeutete,
dass keiner Handy, MP3-Player oder sonstige elektrischen Sachen dabei
haben durfte. Was nicht ganz dazu passte, waren die Zelte. Die waren
nämlich aus Plastik. Aber das störte die Veranstalter offenbar
nicht.
Sheila durchwühlte
ihre Sporttasche, in der sie ihr Hab und Gut mitgeschleppt hatte.
Dann beförderte sie eine Laterne aus Glas zutage. „Na bitte. Ich
wusste doch, dass ich so ein Ding eingepackt habe“.
„Und wo willst du
die bitteschön hintun?“, fragte Kathy mit einem spöttischen
Unterton in der Stimme. „Fürchtest du dich im Dunkeln?“.
„Halt doch mal die
Klappe“, fuhr Alex sie an. „Wer nicht lebensmüde ist, nimmt eine
Lampe mit, oder willst du überfahren werden?“.
Darauf konnte Kathy
nichts erwidern.
Alex begann
ebenfalls, seine Sachen zu durchsuchen.
„Was tust du da?“.
Alex richtete sich
auf und blickte Sheila verständnislos an. „Was denkst du denn? Ich
komme natürlich mit. Glaubst du etwa, ich lasse dich alleine
gehen?“.
Ein
warmes Gefühl durchströmte Sheila, als sie das hörte. „Das ist
wirklich lieb von dir, und ich weiß das auch sehr zu schätzen, aber
wenn wir alle drei gehen, dann ist Bella alleine hier. Jemand muss
mit ihr warten.“. Sonst
dreht sie noch durch vor Angst vor der Weißen Frau. Oder vor
Werwölfen und Vampiren.
Alex musterte sie
einen Moment lang aufmerksam, beschloss, dass sie es ernst meinte und
ließ seine Sachen schulterzuckend wieder auf den Boden fallen. „Von
mir aus“.
Kathy warf einen
Blick auf ihre Armbanduhr, die sie hereingeschmuggelt hatte. „In
einer Stunde brechen wir auf“.
Der Regen wurde
immer schlimmer.
Als sie um viertel
vor zehn auf ihren Fahrrädern losfuhren, war der Boden schon so
durchweicht, dass es Schlamm spritzte, wenn man darüberfuhr.
Zudem war der Himmel
wolkenverhangen, sodass man weder Mond noch Sterne sah und die beiden
vollkommen auf die Laterne gestellt waren, die an Sheilas Lenkrad
hing und immer, wenn sie über einen Stein oder eine Straßenrinne
fuhr, hin und her schwang und ab und an gegen ihr Knie knallte.
Das Zeltlager war
direkt am Wald aufgeschlagen worden, sodass sie einem engen Feldweg
ungefähr eineinhalb Kilometer lang folgen mussten, was kein
Vergnügen war, da ihnen die nassen Äste immer wieder ins Gesicht
schlugen, was Sheila schon nach ein paar Minuten das Gefühl gab,
etliche Kratzer und Schrammen an den Wangen und auf der Stirn zu
haben. Kathy erging es natürlich nicht anders, aber sie wäre lieber
gestorben, als dass sie das zugegeben hätte. Vor allem, nachdem sie
vor ihren Freunden so dick aufgetragen hatte. Einen Rückzieher
konnte sie sich nicht leisten. Und jetzt erst recht nicht mehr.
„Wo genau willst
du jetzt eigentlich hin?“, wollte Sheila missgelaunt wissen.
„Erst fahren wir
auf der Staatsstraße bis zu Kapelle. Da biegen wir dann rechts in
diesen Feldweg ab, der mitten in den Wald hineinführt. Und dann
werden wir ja sehen, ob es da spukt oder nicht“. Wie um ihre Worte
zu unterstreichen, trat Kathy kräftiger in die Pedale und überholte
Sheila, wobei sie diese mit Schlamm bespritzte.
„Kathy, du
brauchst nicht ständig beweisen, wie wenig Angst du hast“,
grummelte Sheila ungehalten, während sie sich mit einer Hand die
Dreckspritzer aus dem Gesicht wischte.
Kathy machte sich
nicht mal die Mühe, sich umzudrehen. Stattdessen hielt sie etwas
hoch und rief durch das Prasseln des Regens: „Sieh mal, was ich
hier habe“.
Sheila kniff die
Augen zusammen. „Ist das … eine Kamera!? Hast du die heimlich
mitgenommen?“. Kathy winkte ab. „Klar. Was sie nicht weiß, macht
sie nicht heiß“. Sie sprach natürlich von unserer Leiterin, deren
Namen Sheila schon längst wieder vergessen hatte. „Ist doch ganz
praktisch, oder? Sogar mit Nachtsichtfunktion. Da können wir eine
Menge Fotos machen, wie unglaublich gruselig es hier spukt“. Sie
gab ein lautes Heulen von sich und brach in Gelächter aus.
Am liebsten hätte
Sheila ihr den Mittelfinger gezeigt. Ab und zu konnte Kathy echt zum
Kotzen sein. Anstelle davon zog sie nur eine Grimasse, die Kathy
leider nicht sehen konnte.
Trotz
allem musste Sheila unwillkürlich lächeln. Sogar
mit siebzehn Jahren sind wir noch zum Zicken aufgelegt …
In diesem Moment war
der Feldweg zu Ende, und sie bogen nach rechts in die Staatsstraße
2080 ein. Jetzt war es nur noch ein halber Kilometer bis zur
verrufenen Kapelle.
„Und denk dran:
Wenn du eine Pennerin im weißen Kleid im Straßengraben liegen
siehst, dann musst du sie auf dem Gepäckträger mitnehmen“, rief
Kathy ihr zu und lachte sich über ihre eigene Formulierung schlapp.
„Warte nur, wenn
wir erst mal dort sind und doch etwas finden“, schleuderte ihr
Sheila entgegen. „Dann bist du wahrscheinlich die Erste, die sich
vor Schiss in die Hose macht und schreiend das Weite sucht“.
Sogar durch den
Regen konnte sie Kathy verächtlich schnauben hören.
Sheila konnte die
Straße schon gar nicht mehr richtig sehen, so fest peitschte ihr das
Wasser ins Gesicht; es kam nicht selten vor, dass sie leicht von der
Straße abkam und in der Sandspur am Rand weiterfuhr.
Einmal fuhr sie
sogar fast in den Straßengraben, wobei sie laut fluchend die Laterne
vor dem Absturz ins Wasser retten musste.
„Das kommt davon,
dass du unbedingt dieses Ding mitschleppen musstest“.
Sheila ignorierte
Kathy einfach. Mittlerweile war sie sich sicher, dass Kathy sich
wahrhaftig in die Hose machen musste. Es passte zu ihr, ihre
wirklichen Gefühle damit zu überspielen, indem sie auf die Fehler
anderer hinwies und sich darüber lustig machte.
„Hier!“, rief
Kathy nach einigen Minuten und bremste so abrupt, dass Sheila
beinahe in ihr Hinterrad gekracht wäre, was sie aber gerade noch
verhindern konnte, indem sie ihr Lenkrad herumriss und fast auf dem
Boden gelandet wäre.
„Du bist
unausstehlich“, teilte sie Kathy mit, die es – wie üblich –
nicht einmal beachtete.
„Und? Brennt in
dieser blöden Kapelle ein Licht?“. Lachend fuhr sie näher zu dem
Gebäude heran und spähte durch die Gitterstäbe hindurch in das
Innere.
Etwas zögerlich kam
Sheila ihr hinterher.
An
der hinteren Wand Stand ein kleiner Altar mit einem Bild und einer
Kerze, soweit sie es im Licht ihrer Laterne erkennen konnte. An der
Wand links befand sich ein Gebetsstuhl, auf dem wahrscheinlich nur
eine Person, höchstens zwei, Platz hatten. Insgesamt zählte sie
drei Kruzifixe die an den Wänden hingen und sogar in dem spärlichen
Licht äußerst verstaubt aussahen. Sheila mochte es Kathy gegenüber
nicht zugeben, aber dieser Ort hatte etwas Bedrückendes. Etwas, das
in ihr das Verlangen entfachte, so schnell es ging die Flucht zu
ergreifen und nie wieder herzukommen. Fröstelnd trat sie einen
Schritt zurück. „Kathy?“, wisperte sie. „Können wir bitte
wieder gehen?“.
Kathy atmete scharf
aus. „Hast du Angst?“.
„Ja, verdammt!“.
Sheila klapperte mit den Zähnen.
Zu ihrer
Überraschung nickte Kathy, ohne irgendwelche gemeinen Witze zu
reißen. „Lass uns abhauen“.
Sie schoben ihre
Fahrräder herum und steuerten auf die Straße zu.
Plötzlich hielt
Kathy Sheila mit einem ausgestreckten Arm zurück. „Warte“,
flüsterte sie erregt. „Was ist das?“.
„Was?“. Sheila
merkte, dass ihre Stimme zitterte. Vor Kälte oder vor Furcht – das
wusste sie nicht so genau. Beides wäre durchaus möglich. „Ich
sehe nichts“.
Kathy deutete nach
links in den Wald, wohin der Feldweg führte.. „Zwischen den beiden
Fichten“.
„Kathy
– da sind eine Menge
Fichten!“. Sheila
wurde immer hibbeliger. Diese fürchterliche Nervosität war kaum
noch auszuhalten.
„Na diese beiden!
Direkt neben dem Weg!“.
Sheila strengte ihre
Augen noch mehr an, nicht ganz sicher, ob sie es wirklich sehen
wollte. Sie war erleichtert, als sie nichts sah. „Was … soll da
sein?“.
„Das Licht! Dieser
Lichtpunkt“.
Genau in diesem
Augenblick, in dem Kathy es sagte, sah Sheila es auch. Mit einem
unkontrolliertem Quietschen machte sie, samt Fahrrad, einen Satz nach
hinten. „Oh mein Gott, was ist das?“.
„Wahrscheinlich
nur ein am Baum befestigter Reflektor? Oder fluoreszierende Pilze?“,
versuchte Kathy mit gepresster Stimme eine Erklärung für das
Unerklärliche zu finden.
„Reflektoren? Und
welches Licht sollte da reflektiert werden?“. Sheila wusste, dass
sie schon leicht hysterisch klang. „Und Fluoreszierende Pilze sehen
anders aus!“.
„Ich werde mir das
jetzt mal ansehen“. Entschlossen stapfte Kathy los; Sheila im
Schlepptau.
Mit der Zeit wich
Sheilas Furcht der Verwirrung. Egal, wie nahe sie herangingen – das
Licht schien immer genau so weit weg zu sein wie vorher.
Erst, als sich
Sheila den Kopf an einem tief unten wachsenden Ast anstieß, weil sie
sich so auf das Licht konzentriert hatte, ohne auf den Weg zu achten,
bemerkte sie, wie tief sie schon in den Wald eingedrungen waren.
„Kathy“. Sie hielt ihre Freundin am Arm fest.
Doch Kathy hatte den
Blick so gebannt auf den Lichtpunkt gerichtet, dass Sheila noch
einmal rufen musste, bevor Kathy sie überhaupt richtig wahrnahm.
„Kathy!“.
„Hm?“.
„Lass uns
umkehren. Bitte“, flehte Sheila schon fast und zog an Kathys Arm.
Um keinen Preis würde sie allein den Weg zurück zur Straße machen.
„Wieso denn?“.
Kathy blickte sich um, als ob sie soeben aus einem fesselndem Traum
erwacht wäre – und erstarrte. „Verdammt“.
„Vielleicht werden
die Menschen so in den Wald gelockt“, spann Sheila eine Geschichte
weiter, die sie im Kopf angefangen hatte, schon von dem ersten Moment
an, an dem sie das Licht gesehen hatten. „Sie folgen dem Licht
immer weiter, bis sie in der Höhle des Löwen landen“.
„Hör auf!“,
schrie Kathy und schüttelte sie. „Hör auf“.
In diesem Augenblick
knackte in unmittelbarer Nähe ein Ast so laut, dass beide Mädchen
zusammenzuckten.
„Scheiße“,
flüsterte Sheila. „Was hab ich gesagt?“.
Noch ein Knacken.
Näher als das
zuvor.
„Weg hier“,
wisperte Kathy, die sich unwillkürlich an Sheila festklammerte.
Doch keiner der
beiden wagte es, sich zu bewegen.
Erst beim nächsten
Geräusch rannten sie wie auf Kommando in Höchstgeschwindigkeit los.
Sheila spürte die
nassen, strähnigen Haare im Nacken, wie ihr die Äste ins Gesicht
peitschten. Blind schlug sie sich durch Geäst, Büsche und
Sträucher, den eigenen röchelnden Atem immer im Ohr. Sie schaute
sich lieber nicht um.
Selbst, wenn ihr
jemand folgte – sie wollte es nicht sehen.
Hoffnung wallte in
ihr auf, als sie in der Ferne durch die Bäume hindurch ihre
Fahrräder stehen sah.
Zu früh gefreut.
Sheila blieb mit dem
Fuß in einer Wurzel hängen und stürzte der Länge nach
ausgerechnet in einen dornigen Hagebuttenstrauch. Doch sie spürte
den Schmerz nicht, wie ihr die Dornen durch die Jacke und die Hose
hindurch Arme und Beine zerkratzten. Im Gesicht war sie ohnehin schon
gefühllos geworden.
Ihr einziger
Gedanke: Bloß weg hier! Egal wie!
Sheila keuchte
verzweifelt auf, als sie um sich schaute und hinter sich noch immer
dieses Licht sah. „Hau ab!“, schrie sie es an. Ihr war es egal,
wie irre sie sich aufführte. Das hier war für sie eine absolute
Notlage. Wie wild riss sie an ihrer Jacke, die sich in den Dornen
verfangen hatte, konnte sich aber nicht befreien. Kurzerhand zog sie
die Jacke aus, ließ sie im Strauch hängen und setzte ihren Weg ohne
den schützenden Anorak fort, was ihr zwar einige mehr Kratzer und
Schnitte einbrachte, ihr aber (im Moment) vollkommen gleichgültig
war.
Am Rande des Waldes
angekommen fiel sie mehr oder weniger auf ihr Fahrrad, stieß sich
mehrfach die Beine an den Pedalen an und raste voller Panik davon.
Erst viel zu spät
ging ihr auf, dass sie ja nicht allein war.
Wo war Kathy
geblieben?
Komischerweise konnte sie sich nicht mehr dran erinnern, Kathys Fahrrad gesehen zu haben. Sheila konnte also nur hoffen, dass Kathy schon am Zeltplatz war und auf sie wartete.
Komischerweise konnte sie sich nicht mehr dran erinnern, Kathys Fahrrad gesehen zu haben. Sheila konnte also nur hoffen, dass Kathy schon am Zeltplatz war und auf sie wartete.
Hoffentlich
ist ihr nichts passiert!
Die Strecke, für
die sie davor fast eine Dreiviertelstunde gebraucht hatten,
bewältigte sie nun in nur zwanzig Minuten.
Panik macht
bekanntlich sogar die langsamsten Menschen schnell.
Als sie am Zeltplatz
ankam warf sie ihr Fahrrad hin und raste zu Fuß weiter, auf die
beiden abseits stehenden Zelte zu, die den vier Freunden gehörten.
„Kathy!?“, schrie sie. „Kathy, wo bist du?!“.
Etwas packte sie von
hinten.
Sheila kreischte auf
und schlug wild um sich.
„Sheila!“.
Wer
ist das? In ihrer Panik konnte
Sheila die Stimme nicht richtig zuordnen.
„Sheila! Hör auf!
Beruhige dich! Ich bin es!“.
Alex.
„Gott sei Dank“,
flüsterte Sheila, drehte sich zu ihrem Freund um und er schloss sie
in die Arme.
„Ich hatte schon
Angst, du kommst nicht mehr zurück“. Die Erleichterung in Alex'
Stimme sprach Bände.
„Wo ist Kathy?“.
„Sie ist schon vor
zehn Minuten hier angekommen. Sie war völlig fertig“. Er musterte
Sheila. „Nicht so fertig wie du. Wo ist deine Jacke?“.
Sheila war
unheimlich froh, dass er nicht Zeug fragte wie Was ist passiert?
Oder Habt ihr was gesehen?.
„Die hab ich
verloren“. Sheila lehnte sich an ihn und genoss die Wärme seines
Körpers. „Kathy ist vor zehn Minuten schon angekommen?!“.
„Ja“.
Wie
das?
„Können wir uns
bitte zu den anderen ins Zelt setzen? Ich habe heute schon genug Wald
gesehen“.
„Natürlich“.
Alex war die Fürsorglichkeit in Person.
Isabella und Kathy
sprangen auf und kamen ihnen entgegen, als Alex den Reißverschluss
des Zeltes aufmachte.
„Wo warst du
solange?“. Kathys Stimme zitterte. „Ich hab mir solche Sorgen
gemacht“.
Sheila hob die
Schultern. „Ich bin hingefallen. In einen Strauch mit Dornen. Bin
nicht mehr rausgekommen und hab am Schluss die Jacke dringelassen und
bin weggerannt“.
Kathy nickte, ohne
weitere Fragen zu stellen. „Ich bin nach links gelaufen. Da habe
ich dann fast sofort den Feldweg gefunden, der zur Kapelle führt.
Ich hatte pures Glück“.
Sheila sah, dass
Isabella und Alex vor Neugier und Sorge beinahe platzten, sich aber
ihnen zuliebe zurückhielten, wofür sie ihnen dankbar war. Aber
natürlich konnten sie das nicht einfach so für sich behalten.
Kathy dachte
offenbar dasselbe, denn sie holte tief Luft und begann in allen
Details zu erzählen.
Am Ende war es
still.
„Ich denke, ihr
veräppelt uns nicht?“. Isabella war erstaunlich ruhig. Sheila
hätte eher von ihr erwartet, dass sie auf der Stelle aufspringen und
heimfahren würde.
Kathy blitzte sie
stinkwütend an. „Sehen wir so aus, als ob wir euch veräppeln
würden?!“, fauchte sie Isabella an. „Geh doch hin und überzeug
dich selber!“.
Da wurde Isabella
doch blass und gab keinen Mucks mehr von sich.
Alex ergriff das
Wort. „Ich gehe morgen am Tag nochmal hin und hole eine Jacke,
Sheila, okay?“.
„Ich komme mit“.
Sheila wusste nicht, wieso sie das sagte.
„Wie du meinst“.
Alex sah ihr einen Moment lang in die Augen, dann richtete er sich
wieder an alle. „Ich würde sagen, wie legen uns jetzt schlafen. In
dieser Nacht können wir sowieso nichts mehr machen und es bringt uns
auch nicht viel, wenn wir morgen total am Ende sind vor Müdigkeit“.
Da keiner was
dagegen einzuwenden hatte befolgten alle drei seinen Rat.
Sheila kuschelte
sich an ihren Freund. Es gab ihr Halt zu wissen, dass ein vertrauter
Mensch neben ihr lag, an dem sie sich festklammern konnte und ihr ein
Gefühl des Schutzes vermittelte.
Ruhelos
streifte ich zwischen den Bäumen umher.
Die
beiden Mädchen waren weg.
Hals
über Kopf geflohen. Vor einem meiner Nachtlichter. So nannte ich
sie. Jedes Licht stand für eines der Opfer, die ich schon gebracht
hatte. Und sie wurden von Jahr zu Jahr mehr.
Mein
Lieblingsort war die Kapelle. Dort saß ich oft stundenlang. Bei
brennenden Kerzen und dem Prasseln des Regens auf dem Dach der
Kapelle.
Ich
versuchte immer, nicht über meinen Tod nachzudenken.
Denn
diese Gedanken machten mich wütend. Unmenschlich.
Wenn
diese Autofahrer einen Hauch von Menschlichkeit besessen hätten,
hätten sie eine arme junge Frau wie mich mitgenommen und nicht
allein im Regen, in der Dunkelheit stehen gelassen.
Und
dieser eine Mensch.
Dieses
eine Ungeheuer.
Diese
Person hatte mich überfahren. Und mich dem Schicksal überlassen.
Ich hätte gerettet werden können. Es hätte nicht sein müssen, in
diesem furchtbaren, ewigen, toten Leben festzustecken. Manchmal
testete ich die Leute, die hier mit ihren Autos vorbeifuhren. Früher
war das leichter gewesen, da die Autos noch nicht so schnell waren.
Aber ich hatte mich mit der Zeit der Geschwindigkeit angepasst.
Ich
stellte mich am Rand der Straße hin und winkte den Fahrern – wie
in der Nacht meines grausigen Todes. Meistens wurde ich mitgenommen.
Dann hatte derjenige sein Soll erledigt und ich verließ nach wenigen
Minuten seinen Wagen wieder.
Doch
ab und zu fuhren die Leute einfach an mir vorbei – wie diejenigen,
die sozusagen meinen Tod vorbereitet haben. Bei diesen Menschen
kannte ich keine Gnade. Ich konnte so eine der wenigen guten
Fähigkeiten eines lebenden Toten nutzen und in deren Wagen
erscheinen. Meist genügte ein einziger Griff ins Lenkrad, um sie die
Kontrolle über den Wagen verlieren zu lassen, sodass sie über den
Straßengraben hinweg in den Wald fuhren und mit hoher
Geschwindigkeit gegen die Bäume krachten.
So
vollendete ich mein Werk und verschwand auf der Stelle, ohne den
Opfern zu helfen – falls sie noch am Leben waren.
Ohne
Gewissensbisse.
Ich
blickte zum Himmel empor. In wenigen Stunden würde die Sonne
aufgehen. Und ich hatte noch kein einziges Auto gesichtet. Diese
Nacht war einfach nur langweilig.
Doch
da löste sich meine Enttäuschung in Luft auf, als ich den
Lichtkegel eines Wagens kommen sah. Wie der Wind raste ich zwischen
den Bäumen hindurch, bis ich am Straßenrand stand und, wie
gewöhnlich, zu winken begann.
Im
Auto saßen ein junger Mann und ein Mädchen, das vielleicht drei
Jahre jünger war als ihr Kamerad. Schon von Weitem sah ich, dass
sich die beiden stritten. Das Mädchen zeigte auf mich und machte
dann wedelnde Handbewegungen, dass er Gas geben und schnell
vorbeifahren sollte. Ich spürte schon die Wut in mir grollen und
machte mich bereit, die beiden jungen Leute in den Tod gehen zu
lassen, aber als sie noch näher herankamen, beobachtete ich, dass
der junge Mann auf das Mädchen einredete und mich offenbar mitnehmen
wollte.
Nun
war ich in der Zwickmühle.
Unschlüssig
blieb ich stehen und überlegte, was ich denn jetzt tun sollte.
Vollbrachte ich mein übliches Werk, würden beide sterben, auch der
Unschuldige. Wenn ich gar nichts tat, würde dieses Mädchen
ungestraft davonkommen.
Kurzerhand
erschien ich auf der Rückbank des Wagens.
Zuerst
bemerkten sie mich gar nicht.
„Lass
uns lieber umkehren und sie mitnehmen!“, sagte der Junge
eindringlich.
„Das
ist ein Geist, okay?!“, schrie das Mädchen. „Beeil dich und
hauen wir ab!“.
Ich
knurrte.
Die
beiden fuhren herum.
Das
Mädchen begann, in den höchsten Tönen zu kreischen. „Oh mein
Gott, das ist sie! Das ist die weiße Frau! Jetzt bringt sie uns
um!“.
Mit
einem mittlerweile geübtem Fauchen sprang ich nach vorne zwischen
die zwei Menschen, umklammerte das Lenkrad und steuerte so geradewegs
auf einen Felsen zu, der an der Seite aufgestellt worden war – als
Gedenken an eines meiner Opfer. Ich drückte meinen Fuß aufs Gas;
der junge Mann war zu entsetzt, als dass er irgendwie reagieren hätte
können. Das Mädchen versuchte, die Wagentür zu öffnen, offenbar,
um hinauszuspringen, aber ich hatte definitiv nicht vor, sie
entkommen zu lassen. Mit einer einzigen Bewegung meiner Finger
betätigte ich die Verriegelung, sodass das Mädchen nicht mehr tun
konnte, als schreiend an der Tür zu rütteln.
Als
der Aufprall kam, schirmte ich den Körper des Jungen mit meinem
unverletzbaren Körper ab. Ich konnte diese Seele nicht sterben
lassen.
Er
war gut.
Das
Mädchen nicht.
Ich
zuckte nicht mal zusammen als das Auto frontal gegen den Felsen
krachte.
Den
Jungen drückte ich in den Sitz und sorgte dafür, dass ihm nicht
allzu viel geschah, auch wenn ich nicht verhindern konnte, dass er
von einer Menge scharfer Glassplitter getroffen wurde.
Das
Mädchen wurde aus ihrem Sitz gehoben und knallte mit der Stirn
voraus gegen die Windschutzscheibe, auf der ein kreisrunder Blutfleck
zurückblieb und das Mädchen leblos wieder nach unten sackte.
Hochmütig blickte ich auf sie herab. „Jetzt bist du da, wo du
hingehörst“.
Ich
wandte mich dem bewusstlosen Jungen zu. „Lebe dein Leben“. Ich
hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn.
Dann
verschwand ich aus dem Wagen und zog mich zu meiner Ruhestätte
zurück.
Als Sheila am
nächsten Morgen die Augen öffnete, erinnerte sie sich zu ihrem
Erstaunen erst nicht mehr an die Ereignisse der letzten Nacht.
Erst, als sie
bemerkte, dass Alex, dem die Sorge deutlich ins Gesicht geschrieben
stand, sie musterte, fiel ihr alles wieder ein. Sie stöhnte
innerlich. „Sieh mich bitte nicht so an“.
Alex zog die
Augenbrauen hoch – leicht amüsiert, wie Sheila vermutete. „Wo
soll ich denn sonst hinschauen? Wenn du doch so unglaublich schön
bist“.
Sheila gab ihm einen
Klaps, auch wenn sie leicht errötete und ihr Gesicht schnell wieder
im Kissen vergrub. „Wollen wir heute dann noch meine Jacke
suchen?“, nuschelte sie in den Stoff. „Die war nämlich ganz
schön teuer“.
Aus den Augenwinkeln
sah sie den Anflug eines Grinsens in Alex' Gesicht. „Wenn du willst
… ich kann aber auch alleine gehen, wie gesagt …“.
„Nö“.
„Na gut“.
Sheila richtete sich
auf. „Du bist ja schon angezogen“, meinte sie verwundert, mit
einem Blick auf seine Kleidung.
„Klar“. Alex zog
den Reißverschluss des Zeltes auf, den sie am Abend zuvor sorgfältig
geschlossen hatten – ob vor Angst vor Geistern oder vor lästigen
Mücken – das wollte keiner so recht zugeben. „Ich gehe schon mal
raus und versuche, etwas zu Essen aufzutreiben“.
„Okay. Bis dann“.
Sheila wartete, bis er außer Sichtweite war, dann kramte sie in dem
Haufen von Klamotten, die sie mitgenommen hatte. Unsicher, was sie
anziehen sollte, entschied sie sich für Jeans und einem langärmligen
Shirt, das schon so alt war, dass man nicht es sowieso nicht noch
mehr kaputt machen konnte, auch wenn man sich durch die Äste eines
(verfluchten) Waldes kämpfte. Als sie in ihre festen Schuhe
schlüpfen wollte, die sie gestern getragen hatte, erschrak sie erst
mal. Denn als sie den einen Schuh hochhob und zur Seite neigte, floss
gleich eine beachtliche Menge an Wasser heraus. Sheila verzog
angeekelt das Gesicht. Das war ihr gestern gar nicht aufgefallen. So
blieb ihr nichts anderes übrig, als das zweite ihrer drei Paar
Schuhe anzuziehen, die sie mitgenommen hatte: Die teuren
Nike-Sportschuhe, die sie zum Geburtstag gekriegt hatte. Mit
säuerlichem Gesicht zog sie sie an und malte sich dabei schon aus,
wie diese neuen kostbaren Schuhe nach ihrem Ausflug wohl aussehen
mochten.
Mehr schlecht als
recht torkelte sie aus dem Zelt.
„Hey“, wurde sie
sogleich von Kathy begrüßt. Ihrer Laune nach zu urteilen hatte sie
den Kram von gestern recht gut verdaut. „Coole Schuhe übrigens“.
„Danke“. Sheila
sah sich nach den übrigen Touristen um. „Was steht heute im
Programm unserer Reisegruppe an?“.
„Fischen bei
diesem dreckigen Fluss“.
„Müssen wir den
dann etwa auch essen?“, fragte Sheila maßlos entsetzt.
„Denke schon“.
Kathy zog eine Grimasse. Anscheinend war sie genauso begeistert von
dieser Aussicht wie Sheila.
„Gibt es hier
nicht irgendwo einen Supermarkt oder einen McDonalds?“, maulte
Sheila. „Müssen wir bei dem Fischen mitmachen?“.
Kathy blickte sie
mit einem Hauch Fassungslosigkeit an. „Hör mal, das Ganze hier war
deine Idee! Wir sind alle nur dir zuliebe mitgekommen … na
gut, außer Alex, aber der war ja schon immer so ein
Naturverrückter“.
„Ich konnte ja
nicht ahnen dass die es mit dieser blöden Legende so verdammt ernst
meinen“, nörgelte Sheila weiter.
Kathy begann
schallend zu lachen. „Dass du mal zugibst, eine falsche
Entscheidung getroffen zu haben …“.
„Das sagt die
Richtige“. Sheila gab Kathy einen spielerischen Stoß an die
Schulter.
Kathy wollte sich
gerade rächen, da kam Alex zurück, mit einer Plastiktüte in der
Hand.
Kathy fraß ihn
fast, so schnell stürzte sie sich auf ihn. „Hast du was zum
futtern gefunden? Ich meine natürlich, was anderes als roher Fisch
oder eklige Waldkräuter“, fügte sie eilig hinzu, als Alex schon
ansetzte, eine nervtötende Antwort zu geben.
„Gott sei Dank
kann ich dich beruhigen“. Alex drehte die Tüte auf den Kopf und
schüttelte den Inhalt auf die Decke, die vor ihrem Zelt lag. Kathy
stöberte darin herum. „Ha!“. Triumphierend hielt sie eine Tüte
Chips hoch.
„Das willst
du zum Frühstück essen?“. Ungläubig zog Alex die
Augenbrauen hoch. „Du weißt aber schon, dass das nicht allzu
gesund ist und …“.
„Ach komm, erspar
mir bitte den Vortrag über gesundes Frühstücken“. Gierig riss
Kathy die Tüte auf und seufzte glücklich. „Lecker“. Mehr konnte
sie mit einem Mund voller Chips nicht hervorbringen.
Alex schüttelte den
Kopf. „Mach doch, was du willst“.
„Hast du auch
Semmeln oder so was?“.
Alex wandte sich ihr
strahlend zu. „Du erleichterst mich. Natürlich“. Er warf ihr
eine Tüte zu, über die Sheila wiederum herfiel, als ob sie
wochenlang nichts zu essen bekommen hätte.
Alex sah den beiden
Mädchen stirnrunzelnd beim Essen zu. „Meine Güte, ihr seid ja wie
Piranhas“.
Kathy streckte ihm
nur die Zunge raus. „Und was isst du?“.
„Ich habe bereits
gegessen“, stellte Alex klar.
„Ach ja und was?“.
„Dasselbe wie
Sheila“. Er deutete auf die Tüte mit den Semmeln.
Kathy schnaubte
abschätzig. „Das hätte ich mir ja denken können. Vollkorn, nehme
ich an?“.
Alex schnaubte, als
ob das eine allzu überflüssige Frage sei. „Natürlich“.
Kathy winkte mit
sichtlichem Desinteresse ab und futterte weiter ihre Chips.
Sheila, die die
ganze Zeit über amüsiert Kathys und Alex' Diskussion verfolgt
hatte, fiel jetzt erst auf, dass Isabelle fehlte. „Wo ist Bella?“.
„Schläft noch“,
nuschelte Kathy.
„Sicher?“.
Zweifelnd sah Sheila ihre Freundin an. „Isabella ist doch
normalerweise jemand, der gern früh aufsteht“.
„Vielleicht macht
sie heute mal eine Ausnahme“. Kathy schien vollkommen sorglos zu
sein. „Sieh es doch mal positiv: Wenn sie aufgestanden wäre, dann
wäre die Stimmung jetzt nicht so gut“.
Alex unterdrückte
krampfhaft ein Grinsen.
Kathy sprach
unterdessen weiter. „Sie würde sofort wieder zu labern beginnen
von Geistern und weißen Frauen was passieren könnte, wenn und bla
bla bla“.
Alex grinste nun
doch. „Ist schon wieder gut, Kathy“.
Sheila fand das ganz
und gar nicht witzig. „Können wir ihr es verübeln?“, fragte sie
scharf. „Nach dem, was gestern passiert ist?“.
„Fängst du jetzt
etwa auch noch an?“. Kathy gab ein tadelndes tsss von sich.
„Dann hör auf,
dich über Isabelle lustig zu machen“, schoss Sheila zurück.
„Ach komm, das hör
ich mir nicht länger an“. Kathy stand mitsamt der Chipstüte auf.
„Ich mach einen kleinen Spaziergang“.
Als keiner
antwortete zuckte sie übertrieben gleichgültig die Schultern und
entfernte sich, ein Lied summend, das Sheila nicht identifizieren
konnte.
„Tut mir leid“,
sagte Sheila nach einer Weile mit einer Spur Niedergeschlagenheit.
„Das musste einfach sein“.
Alex zog die
Mundwinkel nach unten. „Irgendwo hast du ja recht“. Er richtete
seinen Blick auf Sheila. „Aber du musst auch an Kathy denken. Sie
will sich ablenken. Und glaubst du wirklich, mit Isabella wäre das
möglich gewesen?“.
„Wohl eher nicht“.
„Eben“.
Sheila warf ihrem
Freund einen schnellen Blick zu. Der war damit beschäftigt, die
ganzen Sachen, die er zum Frühstück gebracht hatte, wieder in die
Tüte zurückzustopfen.
„Wir brechen nun
auf zum Angeln!“, brüllte jemand ohrenbetäubend laut in ein
Megafon, sodass Sheila glaubte, den Boden beben zu spüren.
„Der Typ denkt
wohl, wir sind alle taub“, murmelte sie. „Ich weiß ja nicht, was
ihr denkt, aber ich bleibe hier“.
Alex zuckte die
Schultern. „Angeln ist ziemlich langweilig. Ich hätte nichts gegen
einen angelfreien Vormittag“. Er schaute zu dem Zelt hinüber, in
dem Isabella und Kathy schliefen. „Isabella!“.
Keine Reaktion.
„Das gibt’s doch
gar nicht“, brummte er ungehalten. „Sie kann bei diesem Lärm
doch unmöglich noch schlafen“.
Sheila sah auf die
Uhr. „Es ist zehn. Ich werde mal nachsehen“.
Ächzend stand sie
auf und ging zum Zelt. „Isabella?“.
Wieder nichts.
Sheila verdrehte die
Augen.
Wie
lange kann sie denn noch so weiterschlafen?
Geräuschvoll zog
sie den Reißverschluss auf und blickte ins Innere. Links von ihr lag
jemand unter einer karierten Wolldecke.
„Bella!“.
Isabella rührte
sich nicht.
„Mensch, Isabella,
willst du nicht endlich aufstehen?“. Sheila streckte die Hand aus,
um ihre Freundin wach zu rütteln, doch als sie die Hand auf die
gewölbte Decke legte, sank sie in den Stoff ein. Sheila musste an
sich halten, dass ihr nicht die Kinnlade runterklappte. Mit einem
Ruck riss sie die Decke weg – und erstarrte.
Die Matte war leer.
Mal abgesehen von dem zusammengerollten Schlafsack darunter.
Das ganze Zelt war
leer.
Fassungslos knüllte
Sheila die Decke zusammen und warf sie mit voller Wucht in die Ecke.
Dann kroch sie rückwärts wieder ins Freie zurück und rief: „Sie
ist nicht da!“.
„Wie bitte?“.
„Sie ist weg!“.
Sheila hielt den Stoffvorhang hoch und machte winkende Armbewegungen,
um ihre Aussage dramatisch zu unterstreichen.
Alex ließ alles
fallen und kam zu ihr gelaufen und überzeugte sich selbst. „Das
gibt’s doch nicht“. Ungläubig stieß er die Matte mit dem Fuß
an. „Wo ist sie denn hin?“.
„Hat sie zu dir
irgendwas gesagt? Andeutungen gemacht?“.
„Nein. Dir?“.
Sheila schüttelte
den Kopf. „So kenne ich sie gar nicht. Einfach abzuhauen, ohne ein
Wort zu sagen. Das ist nicht ihre Art“.
„Kinder!“. Die
Leiterin ( mit dem Namen Gilch, wie Sheila wieder eingefallen war)
kam auf sie zu. „Macht ihr euch bitte fertig, damit wir losgehen
können?“.
„Wissen Sie wo
Isabella ist?“, kam Alex mit einer Gegenfrage, was den positiven
Nebeneffekt hatte, dass sie die Frage nicht beantworten mussten.
„Isabella?“. Die
Gilch grübelte. „Tut mit leid, aber wie sieht die nochmal aus? Ich
habe nicht alle Namen in Verbindung mit den Gesichtern im Kopf“.
„Sehr dünn, rote
Haare, etwa so groß …?“. Alex deutete mit der Hand eine Größe
an.
Frau Gilchs Gesicht
hellte sich auf. „Ach so, das Mädchen, das heute früh mit Tobias
los ist, um Getränke aus dem nächsten Dorf zu holen“.
„Wie? Wann? Wo?“.
„Schon ganz früh
sind sie heute los. Ich glaube, es war vielleicht vier Uhr, denn man
braucht auch mit dem Auto doch eine gewisse Zeit, um dorthin zu
kommen“.
„Wieso ist sie
denn mitgefahren?“.
„Keine Ahnung. Sie
war wach und langweilte sich, da hat Tobias ihr vorgeschlagen,
mitzufahren“.
Tobias war Frau
Gilchs Sohn, der vielleicht zwanzig Jahre alt war.
Frau Gilch sah
besorgt auf die Straße hinaus. „Eigentlich hätten sie schon vor
zwei Stunden zurück sein müssen. Gut, dass ihr mich erinnert habt.
Ich fürchte, wir müssen die Angelaktion verschieben. Oder halt“.
Sie drehte sich zu der Gruppe um und schrie: „Bernhardt!“.
„Ja?“, brüllte
ein Mann durchs Megafon zurück.
„Geh du doch schon
mal mit den Leuten hin, ich warte mit den beiden Kindern noch auf
Tobias und das Mädchen!“.
„Geht klar!“.
„Und noch was.
Schmeiß dieses blöde Megafon doch endlich weg!“. Genervt wandte
sie sich wieder den beiden Teenagern zu. „Wir können die Strecke
mal mit den Fahrrädern entlangfahren. Was haltet ihr davon?“.
„Ich hasse das
jetzt schon“, murrte Kathy keuchend,als es nach einem Kilometer
noch immer bergauf ging.
Frau Gilch, Sheila
und Alex wollten gerade aufbrechen, da war Kathy von ihrem
Spaziergang zurückgekommen und wollte natürlich mitfahren.
„Jetzt schon?“.
Sheila konnte das Gejammer allmählich nicht mehr hören. „Du
schimpfst schon die ganze Fahrt lang“.
Kathy trat verbissen
in die Pedale und rauschte mit einem unheilvollem Zischen an ihnen
vorbei.
Sheila und Alex
sahen sich an; Alex zog vielsagend die Augenbrauen hoch.
Hoffentlich
müssen wir nicht die gesamte Strecke fahren.
„Kathy!“, rief
Frau Gilch. „Bleib doch bitte in der Gruppe“.
Doch Kathy fuhr
ungerührt weiter.
„Lassen wir sie
ausspinnen“, riet Sheila. „Sie kriegt sich schon bald wieder
ein“.
Frau Gilch wollte
etwas erwidern, doch ein entsetzter Schrei schnitt ihr das Wort ab.
Erschrocken
betätigte Sheila die Bremse. „War das Kathy?“.
„Ich fürchte ja“.
Alex begann kräftig zu strampeln und war seinen Begleiterinnen bald
ein ganzes Stück voraus.
Wieder einmal war
Sheila froh darüber, fast täglich Sport zu treiben, sodass sie
ihren Freund gleich wieder eingeholt hatte und sie Seite an Seite die
Straße entlang rasten, hoffentlich auf den Ursprungsort des Schreis
zu.
Als sie den
scheinbar endlosen Hügel erklommen hatten und über die Kuppel
hinwegsehen konnten, schnappte Sheila nach Luft.
Hinter ihnen kam
Frau Gilch angeschnauft – und erstarrte. „Das ist Tobias'
Wagen!“. Sie ließ ihr Rad fallen und rannte die letzten Meter auf
die Unglücksstelle zu.
Ein blaues Auto
klebte mehr oder weniger an einem riesigen Felsen, der am Rand der
Straße aufgestellt war. Die Schnauze des Autos war vollkommen
eingedrückt; verschiedenste Bauteile lagen auf dem Boden verstreut;
die Beifahrertür stand weit offen.
„Kathy, was ist
mit den Leuten?“, schrie Sheila, während sie auf ihre Freundin zu
sprintete.
Kathy sagte nichts,
also wurde Sheila gar nicht langsamer, sondern hielt direkt auf die
offene Beifahrertür zu. „Oh Gott, Bella!“.
Sie sah zuerst die
langen roten Haare, die zierliche Gestalt.
Sie kniete neben dem
Mädchen nieder und fühlte hektisch ihren Puls.
Doch sie war zu
aufgeregt und konnte mit ihren zitternden Hände nichts ausrichten.
„Alex, ruf einen Notarzt!“.
Alex fragte nicht
lange nach und wählte einfach.
Indessen war Frau
Gilch in höchster Aufregung zur Fahrertür gelaufen, aber die war so
verbeult, dass sie sie allein nicht aufmachen konnte.
Erst, als Sheila mit
einem dicken Ast mithalf, konnten sie die Tür aufbrechen.
„Tobias!“. Frau
Gilch zog ihn mit einer Sanftheit aus dem Wagen, die man ihr gar
nicht zugetraut hätte und umklammerte sein Handgelenk. Sekunden voll
nahezu unerträglicher Spannung verstrichen. „Er lebt! Eindeutig!“.
Tränen der Erleichterung rannen ihr übers Gesicht, als sie ihren
Sohn vorsichtig an sich drückte.
In diesem Augenblick
trafen mit lautem Getöse der Notarzt und die Feuerwehr ein.
Drei Ärzte stürzten
zu Isabelle, und Sheila und Alex traten einige Schritte zurück, um
den Fachleuten Platz zu machen.
„Was ist los?“.
Sheila platze fast vor Besorgnis.
Einer der Ärzte,
ein älterer Mann mit tief sitzender Brille, sah sie traurig an.
Und schüttelte kaum
merklich den Kopf.
„Was jetzt?“.
Sheila konnte es nicht wahrhaben. „Soll das etwa heißen, sie ist …
!?“.
Keiner sagte ein
Wort.
Alex machte den Mund
auf, brachte allerdings kein Wort hervor und klappte ihn wieder zu.
In Sheila brannten
tausend Gefühle.
Unglauben.
Trauer.
Fassungslosigkeit.
Entsetzen.
Aber sie konnte sich
für keins entscheiden. Alle tobten gleichzeitig und machten das
Chaos von Sekunde zu Sekunde schlimmer.
„Ich – ich muss
hier weg!“, stieß sie hervor, drehte sich um und taumelte davon,
in welche Richtung, das wusste sie nicht.
„Sheila!“, rief
Alex, der Anstalten machte, ihr zu folgen.
„Lass mich bitte
allein! Nur für fünf Minuten!“. Sheila drehte sich mit
ausdruckslosem Gesicht um. „Bitte“.
Alex nickte kurz.
Und wieder einmal
war Sheila im unendlich dankbar für sein scheinbar unendliches
Verständnis für ihre Gefühle.
Sie rannte.
Und rannte.
Weit in den Wald
hinein. Ohne Orientierung.
Nach einem langen
Lauf durch die widerspenstigen Zweige der Bäume war sie letztendlich
so verwirrt, dass sie sich auf einen Baumstumpf fallen lassen musste.
Nachdem sie einige
Minuten ins Leere gestarrt hatte, kamen urplötzlich die Tränen.
Alle Dämme brachen
und sie weinte hemmungslos, während in ihrem Kopf die ganze Zeit der
Freundschaft mit Isabella wie ein langer Film ablief.
Blind vor Tränen
und völlig taub durch die ganzen Gefühle bekam sie gar nicht mit,
wie sich jemand neben ihr niederließ.
Erst, als Alex ihr
ein Taschentuch reichte, nahm sie ihn wahr.
„Danke“,
flüsterte sie mit erstickter Stimme und schnäuzte kräftig, obwohl
sie wusste dass es nichts bringen würde. In ein paar Minuten würde
es ihr wieder genauso gehen.
Es dauerte noch
lange, bis die Tränen versiegten.
Sheila wollte noch
länger weinen, als ob all der Schmerz und all die Trauer mit dem
Salzwasser nach draußen fließen könnten, aber es war vorbei.
Geschlagen und
völlig erschöpft legte sie ihren Kopf auf Alex' Schulter und er
legte tröstend den Arm um sie.
„Danke, dass du
gekommen bist“, sagte Sheila nach einer Weile tonlos.
„Ich konnte dich
doch nicht alleine lassen“.
„Was ist mit
Tobias?“. Sheila betete innerlich, dass er keine lebensbedrohlichen
Verletzungen davongetragen hatte.
„Erstaunlicherweise
ziemlich gut. Den Umständen entsprechend. Er hat zahlreiche Schnitt
– und Schürfwunden und eine Gehirnerschütterung. Und dazu
natürlich noch ein gewaltiger Schock“. Alex blickte seine Freundin
an. „Sie sagen, einen solchen Unfall hätte er nicht überleben
dürfen“.
„Sie muss ihn
verschont haben“. Sheila sagte es, ohne darüber nachzudenken.
„Wer? Was?“.
„Die weiße Frau“.
„Du denkst …?“.
Alex vollendete seinen Satz nicht.
Sheila nickte.
„Oder fällt dir ein anderer Grund ein? Es hat spät in der Nacht
aufgehört zu regnen, es liegt kein Schnee, die Strecke ist
geradlinig … und Tobias ist außerdem ein vorsichtiger Fahrer,
keiner könnte sich auch nur annähernd von ihm vorstellen, dass er
gerast ist“.
„Aber ich verstehe
das nicht …“. Alex raufte sich ratlos die Haare. „Wenn die Frau
mitfahren wollte, wieso haben sie sie nicht einsteigen lassen?“.
„Angst“,
vermutete Sheila. „Die beiden kannten die Sage von der weißen
Frau. Und als diese dann auf der Straße stand … das muss ein
unglaublicher Schock gewesen sein. Aber Tobias lebt …“.
„Vielleicht …“.
Alex zögerte.
„Los. Spuck's
aus“.
„Vielleicht wollte
Tobias sie ja mitnehmen. Aber Isabella nicht. Deshalb hat sie Tobias
das Leben gelassen und Isabella …“.
Sheila nickte müde.
„Das gibt Sinn. Leider. Ich wünschte, wir hätten nicht an dieser
Sagenwanderung gestern teilgenommen. Dann hätte Isabella nie etwas
von dieser weißen Frau erfahren und sie hätte in dieser Nacht
angenommen, es sei eine ganz normale Frau, die per Anhalter nach
Hause fahren will. Wenn sie …“.
„Sheila!“,
unterbrach Alex sie. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände. „Hör auf
an das wenn zu denken. Wir sind im Hier und Jetzt. Niemand
weiß was passiert wäre, wenn. Also lass uns gar nicht erst darüber
nachdenken“.
Sheila seufzte. „Ich
weiß. Ich kann es nur nicht wahrhaben. Und ich will es auch
gar nicht“.
Nach Stunden kehrten
die beiden zurück zu den anderen. Das Fahrzeug stand noch, wo es
war.
„Wieso wird es
nicht weggeräumt?“. Sheila wunderte sich selbst, dass sie so ruhig
sein konnte.
„Es müssen noch
Untersuchungen über den Unfallhergang angestellt werden“, erklärte
ein Typ in einem weißen Schutzanzug.
„Können wir uns
den nicht alle denken?“.
Der Typ sah von
seinem Klemmbrett auf. „Was meinst du?“.
„Es wird zu 100%
so sein, wie bei allen anderen Unfällen hier. Ursache: Unbekannt.
Wenn ihr mich jetzt bitte entschuldigt. Ich kann's nicht mehr sehen“.
„Ich schlage vor,
wir gehen jetzt alle zurück zum Lager“, meinte Frau Gilch mit
belegter Stimme. „Ich werde das Lager abbrechen. Ich muss mich die
nächste Zeit wirklich um meinen Sohn kümmern. Und ihr drei habt mit
Sicherheit keine Lust mehr auf lustige Lagerfeuerabende“.
Kathy nahm die
anderen beiseite. Ihre Augen waren rot und verquollen – auch sie
hatte geweint. „Wir sollten herausfinden, was Isabella umgebracht
hat. Wenn es die weiße Frau war, dann müssen wir sie finden und sie
irgendwie aufhalten. Wir können nicht zulassen, dass sie noch mehr
Menschen in den Tod gehen lässt. Überlegt doch mal, wie viele sie
schon auf dem Gewissen hat“.
Sheila atmete laut
aus. „Erstens: Es war die weiße Frau. Zweitens: Wie sollen
wir das bitte anstellen? Sehen wir aus wie Gespensterjäger?“.
„Was macht dich so
sicher, dass sie es wirklich war?“. Kathy rieb sie die Augen.
„Sie war es“.
Sheila blieb bei ihrer Meinung.
Alex enthielt sich
lieber komplett.
„Der einzige Weg,
das herauszufinden, ist, Tobias zu fragen“.
„Was? Nein nein
nein!“, erwachte nun endlich Alex zum Leben. „Auf keinen Fall!
Der hat eine Gehirnerschütterung und tausende andere kleine
Verletzungen und liegt im Krankenhaus. Wir müssen warten“.
„Warten?“. Kathy
schnaubte verächtlich. „Wir müssen das jetzt durchziehen!
In einer Woche fahren wir wieder heim, wir können nicht länger
warten“.
„Genau genommen
fahren wir heute heim“, stellte Sheila klar.
„Das ist nicht
euer Ernst!“. Kathy blickte zwischen den beiden ungläubig hin und
her. „Ihr wollt wirklich abhauen?“.
„Es gibt nichts,
was wir noch tun könnten“. Sheila senkte den Blick. „Außer …
Bellas Eltern Mut zuzusprechen“.
„Hör auf, den
Teufel an die Wand zu malen!“. Kathy holte Luft. „Das sind wir
Bella schuldig“.
„Hör du auf,
uns ein schlechtes Gewissen zu machen“.
„Ich will die
Sache nicht auf sich beruhen lassen“.
„Sie hat recht“,
schaltete sich überraschend Alex ein. „Das können wir nicht. Wenn
wir die Gilch nicht dazu bringen können, das Lager durchzuziehen,
dann müssen wir uns entweder eine Unterkunft suchen, oder wir machen
unser eigenes kleines Zeltlager“.
„Ja!“. Kathy
nickte eifrig. „So machen wir's“.
„Okay okay“.
Sheila hob die Hände. „Ihr habt mich überstimmt. Yeah“.
„Was müssen wir
alles tun?“. Kathy zückte einen Kugelschreiber mit dem sie auf den
Block klopfte, der auf ihrem Schoß lag.
„Nächtliche
Streifzüge“, sagte Sheila lustlos.
„Kommt auf die
Liste“, bestätigte Kathy überraschenderweise.
„Mit Tobias
sprechen“, fügte Alex hinzu.
„Wichtig!“.
„Alles, was über
die weiße Frau zu finden ist, durchforsten“, meldete sich Alex ein
weiteres Mal.
Kathy nahm es
sogleich in ihrer Liste auf. „Noch was?“.
„Mit der weißen
Frau reden?“.
Damit hatte Sheila
eine Bombe hochgehen lassen.
Kathy rutschte
tatsächlich der Block aus der Hand, dem einige Blätter entfielen
und in einem Chaos am Boden landeten, während Alex wieder mal
einfach gar nichts sagte.
„Was ist denn?“.
Sheila gab sich unbekümmert, hob den Block auf, nahm Kathy den Stift
aus der Hand und schrieb den Punkt eigenhändig auf. „Das ist doch
kein schlechter Ansatz, nicht?“. Sheila weidete sich an den
entsetzten Gesichtern der anderen. „Wer weiß mehr darüber, als
sie selbst? Nun guckt nicht so! Wessen Idee war das Ganze hier
nochmal? Also meine jedenfalls nicht!“.
„Und … wie
stellen wir das an?“. Plötzlich war Kathy auffallend kleinlaut.
Sheila hätte fast
gegrinst. „Jede Nacht im Wald auf sie warten“.
„Du kannst jetzt
aufhören uns zu verarschen. Wir haben gecheckt, dass du keinen Bock
darauf hast, unsere Idee durchzuführen“. Alex klang genervt. Und
wenn sogar Alex genervt war, sollte man lieber den Mund halten.
„Von mir aus“,
lenkte Sheila ein. „Aber wenn ihr beide bei irgendeiner
gefährlichen Sache umgebracht werdet, dann beschwert euch hinterher
nicht bei mir“.
Alex grinste. „Das
ist doch ein guter Deal“.
„Übrigens hab ich
euch nicht veräppelt. Ich mein's ernst“.
Kathy – wieder
ganz die Alte – schnaubte. „Versuchen kannst du's ja. Wenn du dir
nicht vorher ins Hemd machst“.
Sheila war schon in
Begriff, wieder so mit Kathy zu streiten wie früher, aber sie ahnte,
dass diese alte Zeit vorbei war. Es war nicht angebracht, so kurz
nach Bellas Tod schon wieder zu lachen oder gar zu feiern wie in
alten Zeiten.
Alex bemerkte ihren
Sinneswandel auf der Stelle und drückte ihre Hand.
„Okay“. Kathy
holte tief Luft. „Reißen wir uns zusammen. Tun wir es für Bella.
Was ist unser erster Schritt?“.
„Im Internet
recherchieren“, sagte Alex wie aus der Pistole geschossen.
„Gut. Das
übernimmst du, Sheila“.
Sheila war froh,
dass Kathy ungefragt das Kommando übernahm. Und vor allem war sie
froh darüber, dass sie ihren Part der Arbeit irgendwo in einem
(gemütlichem) Haus vorm Bildschirm durchführen konnte.
Bildschirm!
Internet!
„Äh. Frage. Woher
nehmen wir den Computer?“. Das klang sehr dümmlich, aber keiner
fand die Frage komisch.
„Im Dorf gibt es,
glaube ich, eine Bibliothek“, klärte Alex die Mädchen auf. „Da
haben sie sicherlich auch Computer mit Internetzugang“.
„Gut“. Kahty
machte ein Zeichen auf ihren Block. „Hm. So viele Aufgaben haben
wir gar nicht“, meinte sie verärgert. „Wir arbeiten immer
miteinander an einem Teil“, beschloss sie kurzerhand. „Dann
übersehen wir nicht so viel … und es macht hoffentlich mehr Spaß“.
„Kann das
überhaupt Spaß machen?“, fragte Sheila zweifelnd.
Niemand beachtete
sie.
Missmutig klickte Sheila den Artikel weg und lehnte sich stöhnend zurück. „Ach, kommt, Leute! Das wird nie was! Da drin steht nichts, was wir nicht eh schon wüssten. Wann soll dieser Unfall, bei dem die junge Frau gestorben ist, überhaupt gewesen sein? Nirgends ist ein derartiger Unfall auf dieser Straße verzeichnet! Wahrscheinlich gab es weder den Unfall, noch gibt es diese bescheuerte weiße Frau!“. „Ich habe hier schon eine Jahreszahl, aber das ist auch wieder nur eine Vermutung“. Kathy sprach so laut, dass Alex einen scharfen Zischlaut von sich gab. Sollte ja nicht jeder, der sich in der Bibliothek aufhielt, wissen, dass sie sich alles, was über die weiße Frau finden konnten, genauestens durchlasen.
„Die Erzählungen variieren stark im Detail. Der Unfall soll sich einigen Berichten nach um 1990 herum ereignet haben, andere Darstellungen sind hier unschärfer. Doch in den Archiven findet sich kein Zeitungs- oder Polizeibericht, der nur annähernd zu der Geschichte passt. Man darf also bereits den Unfall selbst infrage stellen. Dokumentiert ist lediglich eine deutlich erhöhte Unfallzahl in Nähe der Kapelle, obwohl die Straße gut ausgebaut und relativ gerade verläuft. Berichte über Lichter am Straßenrand gibt es aber zweifellos. Als Erklärungsversuch kommen unter anderem Irrlichter infrage, die in Waldmooren entstehen. Aber auch schlichte Reflektionen von Autoscheinwerfern auf Blättern können die Ursache sein. Hinzu kommt, dass durch die variierenden Schauergeschichten, die in der Umgebung die Runde machen, die Leute sehen, was sie sehen wollen oder zu sehen befürchten“, zitierte Alex aus seinem Text. „Da haben wir's. Es ist also gut möglich, dass die weiße Frau überhaupt nicht existiert. „Und was ist mit den Lichterscheinungen?“, gab Sheila zu bedenken. „Kathy und ich haben sie schließlich auch gesehen“. „Vielleicht habt ihr euch getäuscht?“. „Und wie erklärst du dir die zahlreichen Unfälle?“. „Die Straße verläuft geradlinig. Sie eignet sich hervorragend zum Rasen“, stellte Alex eine seiner berühmten Theorien auf. „Und Tobias ist also auch ein Raser, oder was?“. Kathy schüttelte den Kopf. „Gib's doch einfach zu, dass du ausnahmsweise mal ratlos bist“. „Ich bin nicht ratlos“. „Ach hör doch auf“. Kathy schnaubte verächtlich. „Und wie heißt deine geheimnisvolle Jahreszahl?“, fragte Alex gelangweilt. Kathy starrte ihn an, offenbar total überrumpelt von seinem plötzlichem Sinneswandel. „Um 1990. Könnte das theoretisch stimmen?“. „Woher soll ich das wissen?“, gab Alex gereizt zurück. Alex wurde immer gereizt, wenn er eingestehen musste, dass er zur Abwechslung eine Frage nicht beantworten konnte. „Wir können höchstens die Leute aus dem Dorf ausquetschen“. „Gut. Lasst uns gleich loslegen“. Eilig erhob sich Sheila unter Ächzen aus ihrem Stuhl – froh, sich endlich wieder bewegen zu können. Immerhin saßen sie nun schon seit zwei Stunden vor den Computern, was ihnen noch dazu unheilvolle Blicke der Bibliothekarin eingebracht hatte, weil sie gleich alle drei Rechner blockierten und andere Besucher enttäuscht abziehen mussten. Sheila marschierte einfach auf die grimmig dreinschauende Bibliothekarin zu und fragte rundheraus: „Kennen sie die Legende der weißen Frau im Ebersberger Forst?“. „Wer kennt sie nicht“, kam eine knappe Antwort, ohne dass die Frau den Blick von ihren Unterlagen hob. Sheila schaute zu ihren Freunden zurück und hob vielsagend die Augenbrauen. „Und … wann soll denn dieser Unfall passiert sein?“. „In den meisten schriftlich festgehaltenen Berichten wird 1990 als Zeitpunkt genannt, aber es gibt auch etliche Quellen, die von 1950, 1970 oder gar 2000 sprechen“. Sheila wunderte sich, dass diese Frau mehr als fünf Wörter von sich geben konnte. „Weiß man, wie die Frau hieß?“. Die Frau seufzte genervt auf, nahm ihre Brille ab und knallte sie demonstrativ auf ihren Schreibtisch und sagte ruhig, aber nachdrücklich: „Hör mal, Mädchen. Das Ganze ist eine Legende. Nichts deutet darauf hin, dass dieser Unfall überhaupt je stattgefunden hat. Dementsprechend wenig Namensangaben kann man finden, sowohl im Internet als auch in Büchern. Und würdest du jetzt bitte die Gnade besitzen, mich mit meiner Arbeit fortfahren zu lassen?!“. Von diesem Moment an war Sheila Luft für sie. Sheila zuckte die Schultern. Mehr würde sie sowieso nicht aus dieser Person herausbringen, also kehrte sie zu ihren Freunden zurück, die ihr erwartungsvoll entgegensahen. „Vergesst es. Die haben wir fürs Erste vergrault“.
„Entschuldigen Sie, ich wollte nach einer Person fragen, die heute hier eingeliefert worden ist“. Die drei waren mit dem Zug in die Stadt gefahren, genauer gesagt, ins Krankenhaus, in das Tobias eingeliefert worden war. Frau Gilch hatte ihnen mitgeteilt, dass Tobias aufgewacht war und problemlos einige Minuten mit Leuten sprechen konnte, ohne dass es eine Gefährdung für seine Gesundheit wäre. Leider wussten sie nicht, auf welchem Stockwerk und welchem Zimmer er lag. Da sie schon oft davon gehört hatten, dass sie anfangs nur Familienangehörige zu den Betreffenden Personen ließen, sodass einer von ihnen die zuständige Schwester um den Finger wickeln musste. Die Wahl war natürlich auf Sheila gefallen, mit ihrer schüchternen, zurückhaltenden Art. Wie auch immer – jedenfalls stellte die Krankenschwester hinter dem Pult: „Wie heißt diese Person denn?“. „Tobias Gilch“, erwiderte Sheila. Dann kam die Frage, auf die sie alle drei angespannt gewartet hatten. „Seid ihr denn Angehörige von ihm?“. Sheila versuchte ihren niedlichsten Augenaufschlag und erklärte: „Ich bin seine Schwester. Das sind seine Freundin und Alex, der ist sein bester Freund“. Die Schwester musterte sie alle misstrauisch. Sheila hielt unwillkürlich die Luft an. Hoffentlich nahm sie ihnen ihre Geschichte ab! Nach einigen Sekunden, die Sheila wie eine Ewigkeit erschienen, beschloss die Schwester, ihnen Glauben zu schenken und schaute etwas auf ihrem Rechner nach. „Dein Bruder liegt auf Stockwerk zwei, Zimmer acht“. „Okay, danke!“, rief Sheila und rannte los, Kathy und Alex im Schlepptau, bevor die Schwester es sich wieder anders überlegen konnte. „Und seid bitte leise! Unsere Patienten brauchen Ruhe!“. Das letzte Wort spuckte sie förmlich aus, als würde sie jedem eigenhändig den Hals umdrehen, falls jemand auf die Idee kam, lauter als flüsternd zu sprechen. „Ja ja, schon klar!“. Sie kümmerten sich nicht weiter um die Schwester, sondern suchten das genannte Zimmer auf. Kathy holte Luft, klopfte sachte an und öffnete vorsichtig die Tür. „Tobias?“. „Wer ist denn da?“. Zu Sheilas großer Erleichterung klang er weder verärgert noch schwach, sondern einfach nur verwundert und überrascht, als er sah, wer seine Gäste waren. „Ach, ihr seid doch beim Zeltlager meiner Mutter dabei, oder?“, versuchte er, die drei zuzuordnen. „Ja“, antwortete Alex. „Wir wollten … nur mal kurz vorbeischauen, wie es dir geht“. Falls Tobias es komisch fand, dass drei Teenager, die er überwiegend nur vom Sehen kannte, sich um sein Wohl sorgten, ließ er es sich nicht anmerken. „Das ist nett von euch“, meinte er. „Mir geht es eigentlich sehr gut. Nur noch ein wenig Kopfschmerzen. Aber nach dem, was mir die Leute so erzählen, habe ich wirklich unverschämtes Glück gehabt, dass mir nicht mehr passiert ist. Aber Isabella …“. Sheila zuckte leicht zusammen, als er den Namen ihrer verstorbenen Freundin nannte. Immerhin war diese Wunde noch frisch – nur wenige Stunden alt, um genau zu sein. „Sie hatte nicht so viel Glück. Das wissen wir“, vollendete sie seinen Satz mit belegter Stimme. Bevor sie noch emotionaler werden konnte, redete sie ohne Pause weiter. „Wie ist der Unfall denn zustande gekommen?“. „Ein Reh ist über die Fahrbahn gelaufen“. Da herrschte erst mal eine Weile Stille. „Bitte was?“, entfuhr es Kathy ungläubig. „Ein Reh?!Willst du uns verarschen?“. „Kathy!“, zischte Alex sie an und versetzte ihr einen Rippenstoß. „Wir wollen die wirkliche Ursache wissen“, brachte Sheila ihm sanft näher, auf was sie hinauswollten. Tobias wich ihrem Blick aus. Plötzlich wirkte er nicht mehr wie ein zwanzigjähriger, sondern eher wie ein zehnjähriger Junge, den man beim Schokoladenklauen erwischt hatte. „War da vielleicht … jemand?“, sprach sie leise weiter. Tobias sah auf. „Wie … meinst du das?“. Er wurde sichtlich nervös und knetete unruhig seine Hände. „Wir lachen dich nicht aus“, beruhigte Sheila ihn, als er zögernd Luft holte, zum Reden ansetzte, es aber dann doch bleiben ließ. Tobias blickte die drei der Reihe nach an. „Mir scheint, als wüsstet ihr schon, worauf es hinausläuft?“. „Mehr oder weniger“. „Na gut. Ich warne euch trotzdem vor. Entweder ihr glaubt mir, oder ihr haltet mich für Verrückt“. Er schloss die Augen und begann zu sprechen. „Wir waren auf dem Hinweg zum Dorf, da stand am Rand eine Frau. Es hätte auch … ein Mädchen sein können, das konnte man nicht erkennen. Ich zumindest nicht. Ich wollte sie mitnehmen, ich meine – wieso steht eine junge Frau mitten in der Nacht allein auf er Straße? Aber Isabella hat zu schreien angefangen, dass das die weiße Frau sei und dass ich schnell weiterfahren solle. In diesem Moment wünschte ich, ich hätte meiner Mutter ein einziges Mal zugehört, wenn sie immer ihre Legenden und Sagen erzählt. Jetzt weiß ich es“. Er ließ den Blick beschämt sinken. „Ich hätte anhalten sollen. Sie wirklich mitnehmen sollen. Ich habe gedacht, Isabella weiß das besser und bin ihrem Rat gefolgt. Aber kaum waren wir vorbei, da saß sie auf einmal auf der Rückbank!“. Tobias holte zitternd Atem. „Wir konnten überhaupt nichts tun! Ich weiß nicht genau, was sie getan hat, alles ging so wahnsinnig schnell! Ich weiß nur, dass ich plötzlich die Kontrolle über den Wagen verloren habe und Isabella wie eine Wahnsinnige gekreischt hat, dass ihre Tür verriegelt sei. An den Rest erinnere ich mich nicht. Meine Mutter hat mir nachher erzählt, dass wir frontal gegen den Gedenkstein geknallt sind“. Er schaute die drei an, die seinem Bericht gebannt und gleichzeitig entsetzt folgten. „Sie hat mich am Leben gelassen, weil sie wusste, dass ich sie mitnehmen wollte, oder?“. Sheila und Kathy hingen noch gedankenverloren seiner Erzählung nach, sodass Alex etwas erwidern musste. „Das ist die naheliegendste Erklärung. Und eine andere gibt es nicht“. „Ich verstehe das nicht“. Tobias schüttelte den Kopf. „Wenn Isabella über die Legende Bescheid gewusst hat, wieso hat sie mir dann eingeredet, weiterzufahren?“. „Weißt du … was den Punkt Übernatürliches angeht, ist Bella … wie soll ich es sagen … speziell. Sie wurde dazu erzogen, an Geister zu glauben und sie zu fürchten. Sie hat Panik gekriegt. Sie hat ja schon bei diesem Vortrag deiner Mutter Panik gekriegt, als sie von der weißen Frau erfahren hat“. In diesem Augenblick wurde die Tür grob aufgestoßen und eine füllige Schwester mit einem Tablett stapfte geräuschvoll herein. „So, Kleiner“, trällerte sie. „Hier ist dein Abendessen und als Nachspeise etwas Medizin“. Tobias bemerkte die entgeisterten Blicke seiner Besucher und erklärte schnell: „Äh, das ist meine Tante. Sie arbeitet hier“. Da nun auch die Sache mit der Kleiner-Anrede geklärt war, dankten die drei Tobias und verabschiedeten sich.
„Jetzt ist ja wohl alles klar“. Sheila schlang fröstelnd die Arme um sich, während sie auf den Zug warteten. „Was tun wir jetzt? Frau Gilch hat das Zeltlager doch nicht abgebrochen, die einzige Veränderung ist, dass ein Aushelfer bei der Aufsicht dazugekommen ist. Fahren wir also gleich ins Lager zurück?“. „Ich schlage vor, wir passen diese grausame Übeltäterin mal ab“, sagte Kathy grimmig. Sie zeigte mit dem Finger gen Himmel. „Schaut euch die Wolken an. Garantiert regnet es heute Nacht wieder. Perfektes Weiße-Frau-Wetter“. „Nein! Das ist doch nicht dein Ernst!“. Sheila war entsetzt. Noch entsetzter war sie, als Alex auch noch zustimmte. „Na toll“, murmelte sie. „Hoffentlich finden wir dann wenigstens meine Jacke wieder“.
Also fuhren sie vom kleinen Bahnhof im Dorf, auf dem sie ihre Fahrräder abgestellt hatten, gleich schnurstracks am Zeltplatz vorbei direkt zur Kapelle. Dort warfen sie die Räder in ein Gebüsch und bedeckten sie mit Zweigen, damit nicht sofort jeder, der vorbeikam, sah, dass jemand im Wald herumlungerte. „Und, äh, was genau haben wir jetzt eigentlich vor?“. „Verstecken wir uns hinter der Kapelle“, schlug Alex vor und lief, ohne eine Rückmeldung seiner Begleiterinnen abzuwarten, um das schlichte kleine Gebäude herum. Kathy folgte ihm ohne zu Zögern. Sheila wollte noch einen schnellen Blick in das Innere der Kapelle werfen – und gab einen leisen Überraschungslaut von sich. „Hey, das ist ja … ist das möglich? Meine Jacke!“. Sie trat in den Eingangsbereich der Kapelle und hob ihre blaue Lederjacke vom Boden auf, die sorgfältig zusammengefaltet an der Wand gelegen hatte. Kein Zweifel, das war sie. Kathy und Alex musterten die Jacke argwöhnisch, als fürchteten sie, dass sie verflucht sei. „Wie kommt die denn dahin?“. Sheila hob ratlos die Schultern. „Vielleicht hat sie ja eine hilfsbereite weiße Frau vorbeigebracht. Wer weiß – vielleicht hat sie sie ja sogar gewaschen“. Kathy verdrehte die Augen, und murmelte etwas davon, dass es eine reine Selbstfolter sei, mit Sheilas Humor auskommen zu müssen. Gemeinsam hockten sie sich in eine Erdkuhle und duckten sich hinter das hohe Gras, das allem Anschein nach noch nie einen Rasenmäher gesehen hatte. Leise fluchend zog Sheila ihre neuen Schuhe aus dem Dreck. „Super, das krieg ich nie mehr ab“. „Ach was“. Kathy waren Sheilas neue Schuhe im Moment herzlich egal. „Vielleicht sehen wir sie ja. Zur Not müssen wir jemanden bitten uns nachts mit dem Auto herumzufahren, sodass sie uns aufhält und wenn sie dann im Auto sitzt können wir … hm. Was eigentlich? Sie fragen, warum sie das tut? Dass sie aufhören soll?“. „Aber wenn wir sie damit verärgern könnte sie uns auch in einen Unfall bringen und, äh, sterben lassen. Wenn wir ihr so einfach begegnen kann sie nicht allzu viel ausrichten, schätze ich“, meinte Sheila, die versuchte, mit Grasbüscheln den Schmutz von ihren Schuhen zu putzen. Seltsamerweise verspürte sie keinerlei Aufregung, obwohl die Tatsache in Aussicht stand, dass sie einem realem Geist über den Weg laufen würden. Können Geister überhaupt real sein? Gute Frage. In dem Moment begann es zu regnen. Erst tröpfelte es leicht, dann wurde es immer stärker, bis es schließlich schüttete, als ob der Himmel alle seine Schleusen geöffnet hätte. Nun war Sheila gleich doppelt froh über die wiedergefundene Jacke. Inzwischen war es elf Uhr und damit stockdunkel geworden. „Leute“, flüsterte Kathy plötzlich. „Seht mal!“. Alex und Sheila folgten ihrem Blick. Sheila wäre beinahe ein paar Meter hochgesprungen. In der Kapelle brannte Licht. Sie sah die anderen mit großen Augen an. „Wisst ihr was das bedeutet?“. Kathy schluckte. „Sie ist hier“.
Ich saß in meiner Kapelle. Zufrieden betrachtete ich das Licht meiner verlorenen Seele, das ich immer hier entzündete, bevor ich auf Jagd ging. Meine Wut, die in all den vergangenen Jahren um kein bisschen abgeschwollen war, trieb mich dazu. Ich konnte nicht stillstehen. Wenn ein Wagen vorbeikam, musste ich den Fahrer einfach testen. Langsam erhob ich mich aus meinem Schneidersitz und verließ die Kapelle, um nach Autos Ausschau zu halten.
„Da kommt eins!“, zischte Alex. „Jetzt dürfte die weiße Frau nicht weit sein. Kommt“. Er kroch vorwärts und spähte um die Ecke der Kapelle. Beunruhigt blickte Sheila sich um. Mit der Wand der Kapelle im Rücken fühlte sie sich sicher und hatte keineswegs das Bedürfnis, diesen Schutz zu verlassen. Angesichts des Ernstes der Lage schloss sie sich ihrem Freund dennoch widerwillig an. Plötzlich stand sie da. Mit dem Rücken zu ihnen.
Ich beschloss, mich direkt neben die Kapelle zu stellen. Da konnte man mich unmöglich übersehen. Der Wagen kam immer näher. Ich begann zu winken. Gespannt, was der Fahrer wohl tun würde. Das war jedes Mal wieder ein Erlebnis für sich.
Beinahe hätte Sheila aufgeschrien. Doch Alex reagierte sofort und hielt ihr blitzschnell den Mund zu und schüttelte kaum merklich den Kopf. Sheila wusste, was er damit sagen wollte. Sie hatte sie noch nicht bemerkt. Ihr weißes Kleid leuchtete unnatürlich durchscheinend, wie der ganze Körper. Mit Entsetzen mussten die Teenager zusehen, wie das Auto vorbeifuhr, ohne anzuhalten.
Ich spürte, wie sich mein Mund zu einem hämischen Grinsen verzog. „Und jetzt kommt die Rechnung für dein Handeln“, dachte ich grimmig und wollte gerade die Verfolgung aufnehmen, als jemand hinter mir schrie: „HALT!“.
Weder Kathy noch Sheila hatten ihn von seinem Vorhaben abhalten können. Nun stand Alex mit erhobenen Händen aufrecht da und blickte der Kreatur entgegen. Unendlich langsam drehte sich die Frau um. Kathy trat einen Schritt zurück und rempelte Sheila unsanft an, doch Sheila schob ihre Freundin wieder nach vorne.
Ich musterte die drei. Und bemerkte die blaue Jacke, die das eine Mädchen trug, woran ich sie wiedererkannte. Das waren die Mädchen von gestern Nacht und ein Junge, den ich noch nie gesehen hatte. Ich überlegte, ob ich nicht einfach verschwinden sollte. Ich sah ihnen an, dass sie etwas sagen wollten.
„Hast – hast du meine Jacke aufgesammelt?“. Sheila spürte, wie Alex und Kathy sie anstarrten. Normalerweise war sie nicht der Typ, der als Erstes das Wort ergriff. Die Gestalt nickte. Sheila atmete auf. Zum Glück griff sie sie nicht gleich an. Ob das ein gutes Zeichen, oder ein Schlechtes? Sie wusste es nicht, also sprach sie einfach weiter: „Der Autofahrer hat dich nicht bemerkt. Er hat etwas am Radio verstellt. Ich habe es genau gesehen. Es wäre unfair, sich deswegen an ihm zu rächen. Es ist unfair, Rache an Menschen zu nehmen, die rein gar nichts mit demjenigen zu tun haben, der dich überfahren hat. Oder mit denen, die dich damals nicht mitgenommen haben. Es gibt tausende Gründe, warum niemand dich hat einsteigen lassen. Es könnte so gewesen sein, wie heute. Dass dich keiner gesehen hat. Das Wetter war sehr schlecht, nehme ich an. Regen. Wind. Nebel. Du hasst alle Menschen, die dich nicht mitnehmen. Aber dadurch bringst du alle, wirklich alle Menschen dazu, dich genauso zu hassen. Sieh den Tod doch als Frieden. Vielleicht lebt der Schuldige ja schon gar nicht mehr. Du musst über die Sache Gras wachsen lassen. Und deine ewige Wut aus dir vertreiben. Du bist auch ein Mörder. Ein noch Schlimmerer, als der, der dich überfahren hat. Du hast so viele Menschen auf dem Gewissen. Du sagst, es ist nicht menschlich, eine Person sterbend liegen zu lassen, ohne Hilfe zu leisten? Dann bist auch du unmenschlich. Denk mal darüber nach“.
Ich dachte darüber nach, was das Mädchen gesagt hatte. Erst wollte die Wut in mir die Macht ergreifen und das Mädchen einfach töten, aber dann erwachte eine andere Stimme in mir. Plötzlich wusste ich, dass das Mädchen recht hatte. In jedem Punkt. „Du musst dem ein Ende setzen!“. Das Mädchen blickte mich durchdringend an und sprach unbeirrt weiter. Ich versank in ihrer Stimme. Noch nie hatte mir jemand so lange zugeredet. Auch zu meinen Lebzeiten nicht. Und am Ende war ich überzeugt.
„Sheila!“. Sheila blinzelte. Jemand schüttelte sie. Alex. „Sheila! Sie ist weg. Du kannst aufhören zu reden. Sie ist weg!“. Sie öffnete die Augen ganz. Vor ihr stand Alex; sein Gesicht war nur Zentimeter vor dem Ihren entfernt. „Denkt ihr, sie lässt den Fahrer am Leben? Denkt ihr, sie hat verstanden?“, murmelte sie. „Das sehen morgen. Wenn uns keine Nachricht von einem tödlich ausgegangenem Unfall erreicht, wissen wir, dass du es geschafft hast“.
Mit einem bangen Gefühl erwarteten sie in ihrem Zelt den nächsten Morgen. So früh wie möglich stürzten sie ins Hauptzelt, in dem Frau Gilch ein Radio aufgestellt hatte und suchten den Regionalsender her. Ein Unfall wurde nicht erwähnt. Mit keinem einzigen Wort. Auch in der Zeitung, die der neue Aufsichtskollege mitbrachte, stand nichts. Sie sahen sich an. „Wir haben es geschafft“, sagte Kathy ungläubig. Dann schrie sie gen Himmel: „Wir haben es geschafft! Sheila, du hast es geschafft! Du hast das Leben dieser Person und vieler anderer Personen gerettet!“. „Nicht ich. Wir“, verbesserte Sheila ihre Freundin glücklich. „Für Bella“. Sie umarmte Kathy und gab Alex einen innigen Kuss.
Jahre später erschienen in den Zeitungen immer wieder Artikel, und in Regionalsendern wurde voller Verblüffung berichtet, dass die Serie der tragischen Unfälle auf der Straße 2080 plötzlich abgebrochen sei. In den nächsten Jahren wurde nicht ein einziger Unfall bekannt. Viele sprachen davon, dass die weiße Frau wohl müde geworden war, bei ihrer Suche nach ihrem Mörder.
Aber drei Teenager wussten es besser.
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